Die vielen Möglichkeiten, unser Gesundheitssystem zu retten

Wir Österreicher lieben das Krankenhaus, anders kann man es nicht interpretieren, dass man hierzulande mit banalen Befindlichkeitsstörungen die Ambulanzen belagert. „Mit Schnupfen ist AKH?“ hieß denn auch eine Veranstaltung des Hausärzteverbandes, in der das Ambulanzchaos wieder einmal aufgezeigt wurde.

Man müsste meinen, die Österreicher/innen sind öfter im Krankenhaus als im Urlaub, obwohl letzterer sicher gesünder ist und manchmal sogar eine sinnvollere Alternative. Bei den Spitalsaufenthalten sind wir Weltmeister. Kein Wunder, dass da niemand die Hausärzte braucht – 9,2 % ist ebenfalls (Negativ-)Weltrekord. Das politische Gütesiegel „Wir brauchen euch nicht!“. Das Krankenhaus als Wellnessoase mit Hochtechnologie ist weit attraktiver.

„Mit Schnupfen ist AKH?“

Als Redner konnte der Hausärzteverband Dr. Paul Brandenburg, Allgemein- und Notarztmediziner, gewinnen, dessen Buch „Kliniken und Nebenwirkungen: Überleben in Deutschlands Krankenhäusern“ aufzeigt, dass Österreich die besagte Weltmeisterschaft gegen harte Konkurrenz des Nachbarlandes immer wieder erkämpfen muss. Das Gesundheitssystem ist ja traditionell eine zwiespältige Angelegenheit: finanziert einerseits aus Kassen-, andererseits aus Steuergeldern kann man die Patienten dorthin verschieben, wo es dem anderen teuer kommt. Da es in jedem Bundesland andere Regelungen gibt, haben wir viele Patienten und Ärzte mit Migrationshintergrund. Wenn man schon am Rande eines Bundeslandes wohnt, rentiert sich oft eine Ordination im Nachbarland. Nahezu seit Jahrzehnten sind wir dabei, die Hausärzte aufzuwerten, es werden nur immer weniger, und am liebsten hätten wir es, wenn sie vollkommen wert- (und kosten-)frei arbeiten würden. Rund um die Uhr, versteht sich.

Brandenburg zeigt eine andere Ambivalenz auf: Krankenhäuser sind einerseits zu „Behandlungsfabriken“ geworden, andererseits zu Wellnesstempeln mit Hotelkomponente. Da sie überdies Wirtschaftsbetriebe sind, die auch so geführt werden müssen, darf sich niemand wundern, dass Herr und Frau Österreicher ihren Urlaub lieber in der Hotelkomponente verbringen – finanziert mit Kassenbeiträgen und nicht mit dem Urlaubsbudget – und falls der Schnupfen ärger wird, stehen zur allseitigen Beruhigung CT, MRT und Gammaknife im Hintergrund bereit. Sicherheit ist alles! Und bevor ich mich von einem Arzt angreifen lasse, lasse ich mich lieber in die CT-Röhre schieben.

In der Diskussion mit Dr. Paul Brandenburg und Dr. Wolfgang Geppert, Sprecher des Österreichischen Hausärzteverbandes, kamen dann auch andere Feinheiten zutage, sodass es durchaus lohnend ist, das Thema weiterzuspinnen und die vielen Möglichkeiten, unser Gesundheitssystem zu sanieren, zu hyperventilieren.

Krankenhäuser: Um-, Ab- und Zu-, und vor allem Neubau

Krankenhäuser sind Länder- und meist auch Bürgermeistersache. So wie wir alle unser eigenes Auto brauchen, braucht jeder Bürgermeister sein  eigenes Spital, nicht nur aus Prestigegründen, sondern auch zur Arbeitsplatzbeschaffung, deren Nebenwirkung dann auch eine grandiose Defizitbeschaffung ist. Statistisch gesehen gibt es nicht nur einen Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit, sondern auch zwischen Krankheit und Wohngebiet. So ist es ungemein riskant, an der Südbahnstrecke zu wohnen, daher brauchen wir dort auf 50 Kilometer Luftlinie vier neue Krankenhäuser (Mödling, Baden, Wr. Neustadt, Neunkirchen – jedes kostet 200 Mio. EUR, Ausnahme Wr. Neustadt, da sind es 400 Mio.).

Dazu kommentiert Brandenburg: Wir können nicht von einer Inanspruchnahme, sondern nur mehr von einem übermäßigen Konsum von Spitalsleistungen sprechen. Warum sollte auch die Konsummentalität ausgerechnet vor den Spitälern haltmachen? Werbung und PR suggerieren, dass das Krankenhaus mit Wohlfühlfaktor zur Lieblingsdestination wird. So kommt die einsame alte Dame mit überwiegend Gesprächsbedarf direkt an die Klinik – „und wird im Gegenzug gastroskopiert“, denn die Geräte müssen wirtschaftlich ausgelastet werden.

Technisch möglich oder sinnvoll?

So werden viele CTs, MRTs und vieles andere fröhlich durchgeführt, nicht weil es medizinisch notwendig, sondern wirtschaftlich erforderlich ist. Die Zwangsehe von Konsum und Profit funktioniert. Brandenburg: „Die Krankenhäuser bewerben ihre Hochtechnologie, die dann auch konsumiert wird.“ Nicht zu reden von den vielen unnötigen Operationen. So hat unlängst die deutsche Technikerkrankenkasse in einer Untersuchung festgestellt, dass 80 % der Wirbelsäulenoperationen unbegründet sind! „Betriebswirtschaftlich sinnvoll – volkswirtschaftlich unsinnig“, bezeichnet das Brandenburg. Und er prangert den Kadavergehorsam seiner Zunft an, „ein konditionierter Berufsstand, wir machen immer wieder artig mit“, und fordert einerseits, „verweigern wir uns“, andererseits „machen wir uns unbeliebt!“ Bei Politikern, Ökonomen und Patienten – bei letzteren allerdings ein Schuss ins Knie, wenn nicht Aufklärungsarbeit geleistet wird und es zu einem Umdenken kommt. Volkswirtschaftliche Gesprächsmedizin sozusagen.

Das ist das Dilemma des Gesundheitswesens: Einerseits wird der Gürtel immer enger geschnallt, bis sogar die Luft zum Atmen wegbleibt; andererseits wird an allen Ecken und Enden das Geld beim Fenster hinausgeschmissen. Z.B. am Lebensende: Da wird den Patienten alles technisch Mögliche geboten, nichts ist teuer genug – ob das auch sinnvoll ist oder die Patienten nur noch unsinnig gequält werden, danach wird nicht gefragt. Das ist eine andere Diskussion, die aber niemand führen wird, weil das politisch nicht durchsetzbar ist. Dabei verlangt das Rechtssystem nicht, dass alles, was technisch möglich ist, auch gemacht werden muss. Aber das absurde Sicherheitsbedürfnis beherrscht nicht nur die Patienten, sondern auch die Ärzteschaft. Dabei müsste der Arzt nur begründen, was er macht – oder eben nicht mehr für sinnvoll erachtet hat. Und das Problem ist auch, dass es da keine allgemeine Richtlinie geben kann, sondern immer im Einzelfall entschieden werden müsste. Aber dann müsste man den Ärzten ja Eigenverantwortung zubilligen!

Jedenfalls ist bekannt, dass das letzte halbe Lebensjahr an medizinischen Leistungen mehr Geld verschlingt als das gesamte Leben davor – das aber in vielen Fällen unnötig und für den Patienten nur belastend. Daher könnte man wahrscheinlich das Gesundheitssystem auf einen Schlag sanieren, wenn man von dieser Unsitte ablassen könnte. Aber wie gesagt: politisch nicht einmal diskutierbar.

Das Ambulanz-Chaos

Brandenburg spricht von einem „grotesken Imagewandel“, „die Konsumhaltung pervertiert den Arztberuf“. Den Patienten wird die „Wunschleistung“ suggeriert. Und sie kommen in Scharen, am Wochenende, so gegen Mitternacht, „weil ich gerade Zeit habe, und da lagen sie gerade auf der Strecke“, um endlich einmal die seit Wochen bestehenden Rückenschmerzen „anschauen zu lassen“. Die Notfallambulanzen sind zum Etikettenschwindel geworden. 80 Prozent der Klienten sind nach Brandenburg Gewohnheitstäter, Obdachlose, Einsame, Hilflose, Alkoholiker oder sonstwie Abhängige, überforderte Eltern und Stadtneurotiker. Viele haben einfach nur Gesprächsbedarf.

Kein Wunder, dass auch die Ärzt/innen dort überfordert, ausgebrannt und resigniert sind. Mit Zynismus als Abwehrhaltung: „Sie sind hier auf einer Notfallstation, wie darf ich Sie retten?“ Wie ein Kollege alle gehfähigen Patienten begrüßt. Aber daneben schaffen wir den Hausarzt ab, der genau für solche Fälle die Anlaufstelle wäre. Der Hausarzt, so Brandenburg, ist nicht für technische Dienstleistungen zuständig, sondern für Gesprächsmedizin und professionelle Zuwendung. Es geht darum, „als Arzt selbst Medikament zu sein, alles andere ist Physik und Chemie!“ Eine Aussage, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss, denn das ist Aufwertung des Hausarztes in einem Satz! Der Hausarzt garantiert das menschlich Notwendige – alles andere ist Physik und Chemie! Und Hochtechnologie.

Aber beim Hausarzt wird eisern gespart, und in den Spitälern und Spitalsambulanzen das Geld beim Fenster hinausgeschmissen! Mit einem Wort: ein ungeheures Einsparungspotenzial.

Rettungsorganisationen für Bagatellfälle

Die Rettungsorganisationen in Wien beschäftigen 4.000 Mitarbeiter. Aber auch hier betreffen 80 Prozent der Einsätze Banalitäten. Diese Bagatellfälle fühlen sich dann entweder unverstanden und sind enttäuscht, oder sie landen vorsichtshalber wieder in den Krankenhäusern. Dort wird man nie jemand wegschicken, Betten und Geräte müssen ausgelastet werden. Die Renditen sind enorm – und müssen aus wirtschaftlichen Gründen alljährlich steigen. Von den Patienten ist da oft gar nicht mehr die Rede, man spricht z.B. von „170.000 OPs als jährlich erstrebenswertes Ziel“.

Die Ambulanzen platzen aus allen Nähten. Aber statt das Chaos einzuschränken, werden sie einfach geteilt und eine neue Bezeichnung dafür gefunden, und so entsteht die Begriffsverwirrung, an die wir uns gewöhnt haben: Notfallambulanz oder -station, Aufnahmestation, Notaufnahme usw., oder ganz nobel: Emergency Room.

Zuletzt die Patienten

In der Diskussion um Finanzierung, Ökonomie, Auslastung der Geräte und Betten usw. wird einer meist vergessen: der Patient. Blöderweise funktioniert das Gesundheitssystem ohne Patienten auch nicht wirklich. Aber er muss mit einer gigantischen Werbemaschinerie zumindest in eine gesunde Konsumhaltung gezwungen werden, damit sich das Ganze auch wirklich rentiert. Leider kann selbst die Hochtechnologie nur mit Patienten wirtschaftlich ausgelastet werden.

Denkt man volkswirtschaftlich, müsste man schauen, dass man alles Unnötige, das nicht nur Geld verschwendet, sondern auch die Patienten unnötig quält, vermeidet. Irgendwie ist an allen Ecken und Enden, an denen das Geld nur so beim Fenster hinausgeschmissen wird, immer auch der Patient beteiligt. Der will alles und das gleich, dazu wird er nicht zuletzt durch die Werbung für unsere weltmeisterliche Hochtechnologie animiert. Das kann man ihm nicht vorwerfen. Aber man müsste ihn umerziehen. Etwa durch Beteiligung an den Ambulanzkosten bei unbegründeten Fällen, oder an den Transportkosten, wenn die Rettung bei Bagatellfällen gerufen wird.

Aber das wären nur punktuelle Lösungen. Viel wichtiger wäre ein Umdenken auch der Patienten. Und das würde wirklich bei einer Aufwertung des Hausarztes beginnen, der das System kennt und weiß, was notwendig ist und damit unnötige Untersuchungen und Behandlungen – die ja nicht immer angenehm sind – verhindert. Der den Patienten kennt und daher schneller das Richtige in die Wege leiten kann. Und der im Idealfall auch für professionelle Gesprächsmedizin bezahlt bekommt und damit einem Großteil der Patienten das bieten kann, was sie wirklich brauchen!

Über Robert Harsieber

Philosoph, Wissenschaftsjournalist, Verleger (RHVerlag), Mitarbeit an verschiedenen Projekten. Philosophische Praxis: Oft geht es darum, Menschen dabei zu helfen, ihr eigenes Weltbild zu erkunden. Interesse: Welt- und Menschenbilder, insbesondere die Frage eines zeitgemäßen Welt- und Menschenbildes.
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2 Antworten zu Die vielen Möglichkeiten, unser Gesundheitssystem zu retten

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  2. Selina schreibt:

    Das österreichische Gesundheitssystem ist teilweise wie ein Loch ohne Boden. Durch die kostenlos angebotenen Leistungen verlieren die Menschen den Bezug zum Wert der medizinischen Interventionen. Würden zumindest kleine Beiträge verlangt werden, wäre der Umgang mit den staatlichen Ressourcen wieder sinnvoller und reflektierter. Muss ich wirklich wegen jeder Kleinigkeit zum Facharzt laufen, oder reicht vielleicht auch ein Besuch beim Facharzt? Brauche ich diese teuere Reha unbedingt, oder würden auch ein paar Besuche beim Physiotherapeuten und allgemeine Erholung zuhause genügen? Wenn all diese Leistungen wieder ein bisschen etwas kosten würden, täten wir sie wieder mehr schätzen und wahrscheinlich auch mehr Energie in die Erhaltung unserer Gesundheit stecken. Heutzutage gehen wir mit unseren Körper nicht gerade verantwortungsbewusst um: Fettes Essen, Rauchen, Alkohol, wenig Bewegung – all diese Faktoren begünstigen Krankheiten, die wiederum unser Gesundheitssystem belasten. Meiner Meinung nach müsste ein Weg gefunden werden, der die Menschen wieder mehr zum denken und selbst reflektieren anregt. Auf der anderen Seite sollen jene Menschen, die wirklich medizinische Unterstützung brauchen diese auch erhalten. Das geht nur, wenn die finanziellen Ressourcen nicht an andere, eigentlich nicht notwendige Behandlungen verschwendet wurden.

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