Die Kirche hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Da wären einmal – von unten nach oben – die nicht abreißenden Missbrauchs- und Vertuschungsskandale, eine vorkonziliare Sprache, die kein Mensch mehr verstehen und ernst nehmen kann (außer die Erzkonservativen und Fundamentalisten, aber die muss man ja nicht retten – und die tragen überdies einen großen Teil zur Unglaubwürdigkeit bei!), das Festhalten an vorgeschriebenen Dogmen, die man zu glauben hat als einer Wahrheit – und das völlige Ignorieren des Lebens und eines Weges im Leben, der ein spiritueller Weg sein sollte. Womit Kirche ihre Sendung verfehlt hat.
Wir haben heute zwar einen totalen Gegensatz zwischen Wissen und Glauben, zwischen Wissenschaft und Religion, aber beide hängen in einem statischen Weltbild und ignorieren jegliche Dynamik des Lebens. Der Naturwissenschaft kann man das weniger vorwerfen, der Kirche aber umso mehr. Der Naturwissenschaft, zumindest der klassischen Physik, geht es um eine „objektive“ Welt, in der das Subjekt, der Mensch, nicht vorkommen darf.
Und wenn man sich das katholische Glaubensbekenntnis ansieht, dann ist das genau dasselbe: Wir haben zu glauben an Gott als jenseitiges Wesen, das die Welt geschaffen hat, an Kirche, Jesus, den Heiligen Geist – der Mensch kommt da gar nicht vor! Nirgends ein „Ich glaube an einen Weg zum Menschsein“. So ist das Glaubensbekenntnis ein statisches Gefängnis, aus dem es keinen Ausweg gibt. Wir haben an etwas zu glauben, an etwas, also etwas ganz weit draußen, unabhängig von uns selbst. Was wir als Menschen, was wir im Leben tun sollen, welchen Weg wir gehen könnten – damit bleiben wir im Regen stehen. Da hilft uns kein Glaubensbekenntnis und keine Kirche.
Das Konzil sprach von einer Rückkehr zum Evangelium in der Sprache der heutigen Zeit. Stattdessen wird weiterhin der biblische Kernsatz „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ignoriert und verleugnet. Und das Gerede von einem Gott in weiter Ferne ist in einer Gesellschaft, die dabei ist, langsam aus der kollektiven Pubertät herauszuwachsen, einfach nur kindisch.
Glaubwürdigkeit statt Glauben
Das einzige, das die Kirche heute vielleicht noch retten kann, ist bedingungslose Ehrlichkeit. Natürlich zunächst das Stehen zu dem unermesslichen Leid, das sie angehäuft hat. Natürlich zu den Gräueln der Inquisition, wo sie nach zunächst durchaus modernem Ansatz im Zeitgeist mitgeschwommen ist (was sie den Heutigen dauernd vorwirft!), bis hin zum sexuellen und spirituellen Missbrauch. Das wäre aber bloß eine Vorbedingung. (Die Verdienste sollen damit nicht unter den Teppich gekehrt werden, aber darum geht es jetzt nicht, das wäre ein anderes Thema).
Sie müsste vor allem so ehrlich sein, dass es heute sinnlos ist, noch von Gott zu reden, einen Begriff, der so ständig missverstanden und missbraucht wurde, und der, wenn es nicht um mehr oder weniger gewaltsame Statik geht, für einen dynamischen Weg auch gar nicht notwendig ist. Wer den Menschen nicht als einmal geschaffen auffasst – was sich ohnehin durch die Bibel nicht belegen lässt – sondern als ein Wesen, das im Werden ist, das sich entwickeln darf, dann ist es sinnlos, vom Ziel zu reden, das in weiter Ferne liegt. Wenn sich Bergsteiger am Fuße des Himalaya niederlassen und über den Gipfel diskutieren, dann werden sie diesen Gipfel nie erreichen. Selbst wenn sie unablässig beten: „Ich glaube an den Gipfel“ wird sie das nicht einen Millimeter näher heranbringen. Das ist die Situation der Kirche: über Gott zu reden und darüber Dogmen und Vorschriften zu erlassen – wer ehrlich ist: so werden wir das Ziel nie erreichen.
Bei Jesus dagegen stand der Weg an erster Stelle! Alle Gleichnisse enthalten eine Dynamik, eine Entwicklung, einen Weg. Und die sich als Nachfolger der Apostel generieren, verleugnen diesen Weg seit 2000 Jahren! Zwar blitzt dieser Weg immer wieder auf, bei den Heiligen und Mystikern. Aber als solcher wurde man üblicherweise posthum ernannt – wenn längst vergessen war, wie sie diesen Zustand erreicht haben. Wenn also das Wichtigste, der Weg, vergessen war.
Ein anderes Bibelwort: „Der Sabbath ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbath.“ Die Kirche macht dann das Gegenteil daraus und verwaltet den Sabbath, statt den Menschen einen Weg im Leben zu zeigen. Dabei ginge es doch nur darum, nach den Bibelworten zu leben und den Menschen das in die Sprache der heutigen Zeit zu übersetzen. Stattdessen kümmerte sich die Kirche darum, wie die Pharisäer den Menschen Gebote aufzuerlegen, an die sie sich selber nicht hält.
Vom Weg reden statt von einem abstrakten Ziel
Aus dem Glauben an Gott wurden unnahbare Dogmen, aus dem „folge mir nach“ wurde ein blindes Befolgen der Gebote. Wer das tut, kommt mit Sicherheit nicht in den Himmel, denn dadurch ist er fremdbestimmt und noch nicht einmal auf dem Weg zum Menschsein. Ethik besteht nicht darin, zu tun, was man tut, weil man es tut, sondern nur, was man aus innerer Überzeugung tut. Die blinde Übernahme eines Religionsbekenntnisses, die bis ins vorige Jahrhundert vielleicht ausreichend war, hat noch lange nichts mit Religiosität zu tun.
Mit ihrem kindischen und pubertären Gerede drängt die Kirche die Menschen geradezu in den Atheismus. Der dann auch ehrlicher ist, sehr oft haben sich Atheisten intensiv mit der Bibel auseinandergesetzt, während die „Gläubigen“ nur daran glauben, und sie entweder gar nicht kennen oder wörtlich nehmen, was dasselbe bedeutet.
Jesus hat nicht gelehrt, wie Gott ausschaut, sondern wie Menschlichkeit aussieht. Er hat nicht gelehrt, sich irgendwelche kindischen Vorstellungen von Gott zu machen, sondern er hat gelehrt, wie Menschsein geht. Er hat nicht auf ein abstraktes jenseitiges Reich Gottes gezeigt, sondern dass das Reich Gottes (schon) da ist. Um menschlich zu werden hat er Blinde (in sich Versponnene) sehend gemacht, Lahme (die – wie wir heute immer noch – einem statischen Weltbild verbunden sind und nicht vom Fleck kommen) gehend gemacht, damit sie keinen betonierten Standpunkt haben, sondern sich auf den Weg machen können. Er hat Taube (die nicht die Stimme der Natur, sondern nur die der „gesetzestreuen“ Pharisäer hören) hörend gemacht. Er hat (von Wahnideen) Besessene von ihren inneren Stimmen befreit, er hat Kranke (ans Bett, einen statischen Ort, Gefesselte) geheilt, damit sie wieder einen Weg im Leben beschreiten können.
Von all dem war in der Kirche nicht mehr die Rede. Sie predigte alles wörtlich – und bewies damit ein anderes Bibelwort: „Der Buchstabe tötet, nur der Geist macht lebendig.“ Denn sie hat selbst die Sprache der Bibel vergessen, die eine Bild- und Symbolsprache ist. Wieder ist sie damit selbst dem „Zeitgeist“ gefolgt, den sie so sehr verteufelt.
Wege zum Menschsein
Aufgabe der Religion ist es, Wege zum Menschsein zu zeigen. Der Mensch ist nicht, sondern er ist im Werden. Dieses Werden ist auch ein materielles und ein Werden im Leben, aber es ist auch ein spirituelles – daher Weg, Wahrheit und Leben. Man macht aber aus einem Menschen keinen Menschen, wenn man ihm nur Vorschriften macht. Das ist Fremdbestimmung, es geht aber um ein Selbst-Sein. Menschsein geht nur von innen her. Dazu gehört als Grundbedingung die Beschäftigung mit der eigenen Innenwelt. Daher ist Religion ohne Psychologie ein bloßer Schatten.
Weil die Kirche das ignoriert und verleugnet, wendeten sich viele ab und z.B. asiatischen Religionen zu, wo das Innenleben zentral ist. Der Westen lebt nun einmal nach außen, interessant ist die Welt und nicht der Mensch. Und wenn wir ehrlich sind, dann hat die Kirche die christliche Religion, die im Nahen Osten entstanden ist, erbarmungslos verwestlicht. Sie hat aus der lebendigen Spiritualität einen spirituellen Materialismus gemacht, dem es um äußere Gebote und Gesetze geht, und auch Gott hat man in den Weltraum geschossen. Das meinte Nietzsche mit seinem „Gott ist tot, und wir haben ihn getötet“. Wir sollten so ehrlich sein und uns eingestehen, dass die Kirche selbst ihn getötet hat, indem sie ihn in einer toten Sprache „verkündet“ und veräußerlicht hat.
Es geht in der Bibel nicht um „Gott“, sondern um den Menschen und seine Entwicklung. Im NT geht es um die Menschwerdung. Aber wir sollten uns auch hüten, daraus eine Menschwerdung Gottes zu machen (diese Doppelnatur kriegen wir mit unserem Denken des 19. Jahrhunderts gar nicht hin), sondern das eigentlich Wichtige ist UNSERE Menschwerdung. Der Mensch ist nicht, er wird, er ist in Entwicklung. Die Mystik der Menschwerdung würde jetzt zu weit führen, aber es geht um uns selbst und unseren Weg, kristallisiert in der Erzählung von den Emmausjüngern. Sie erkennen ihn gar nicht, aber sie gehen mit ihm. Auch wichtig: im Reden erkennen sie ihn gar nicht, erst im Tun (Wo Kirche nur redet, da ist kein Tun, keine Bewegung). Und dazu sind sie erst fähig am Abend nach einem langen Weg (der von der Kirche immer unterschlagen wird).
Der Weg besteht nicht im Ping-Pong von Beichten und Sündigen, er hat überhaupt nichts mit richtig oder falsch zu tun, wichtig ist nur zu gehen. Selbst die Frage, ob das der richtige oder ein Umweg ist, hat keinen Sinn. Es gibt in dieser Welt ohnehin nur Umwege. Solange wir gehen, sind wir in Entwicklung. Auch über das Ziel zu reden, ist illusorisch. Es ist erbaulich, trägt aber nicht viel zum Gehen bei. Wichtig ist das Gehen, und im Gehen die Offenheit zu bewahren und sich am Horizont ausrichten. Er ist das Äußerste, das wir gerade noch undeutlich sehen können. Und dass er im Gehen immer zurückweicht, ist die Garantie dafür, dass wir uns entwickeln. Er ist damit die Metapher des Göttlichen, dem wir uns annähern, und die uns davor bewahrt, uns Gott vorzustellen – und uns damit den Weg zu verstellen.
