„Steh auf und geh“ – Von der Heilkraft biblischer Texte

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Der Theologe und Psychotherapeut Arnold Mettnitzer legt ein Buch vor, das die Bibel nach ihrem therapeutischen Aspekt beleuchtet.

Im Zentrum der Bibel steht nicht Gott, sondern der Mensch, mit seiner Geschichtlichkeit, seiner Endlichkeit und Unzulänglichkeit, seinem Weg und seiner Bestimmung. Vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel steht der Lebensweg des Einzelnen im Mittelpunkt. Irrwege, Umwege, Sackgassen werden beschrieben und Erfahrungen berichtet, deren tiefe Wahrheit und therapeutische Kraft erstaunlich modern wirken.

Der Autor unterscheidet drei große Erzählstränge: der Weg aus der Sklaverei in die persönliche Freiheit, das Thema der Reinigung, Klärung, Korrektur und Klarheit sowie die Erfahrung der Sinn- und Identitätskrise und deren Bewältigung. Nicht ohne bereits in der Einleitung zu warnen, das Buch zum Götzen und damit die Worte zur letzten Wahrheit zu machen.

Selbstwerdung

Ein biblisches Grundanliegen ist die Selbstwerdung. Aber nicht in dem heute gebräuchlichen Sinn der Selbstverwirklichung, die meist in Ich-Verwirklichung ausartet. „Selbst“ im Sinne C.G. Jungs meint die Ganzheit der Seele im Gegensatz zum fragmentarischen „Ich“. „Es ist zunächst reine Möglichkeit, die zur Wirklichkeit werden kann…“, stellt Mettnitzer klar.

Da wären einmal die Weinberggleichnisse, die zeigen, was Wachstum, Entwicklung und Selbstwerdung bedeuten. Es geht dabei gerade nicht ums „Machen“, vielmehr um Entfaltung des Potenzials, das – gefördert durch das Düngen – dann doch wie von selbst geschieht. Was wir brauchen, ist ein Wandel von einer „Ressourcenausnützungskultur“ hin zu einer „Potenzialentfaltungskultur“, und genau das ist das zentrale Anliegen der Weinberggleichnisse. Es geht um das „Gelingen“, und das kann man nicht „machen“, sondern es muss wachsen. Dieses Wachstum ist auch abhängig von den Bodenbedingungen, von der Epigenetik, würden wir heute sagen.

Begegnung und Weg

Bedeutsam auch die Begegnung mit der Samariterin am Jakobsbrunnen. Es geht nicht um Belehrung, sondern um eine heilsame Begegnung. Kein „du sollst“, kein „du musst“, auch kein „du wirst jetzt!“ So auch das „Steh auf und geh!“ an anderen Stellen, das die Betreffenden wieder auf ihren inneren Weg stellt.

Das Leben ist kein Zustand, sondern ein Weg, eine Wanderung, eine Wallfahrt. Die Heilungen in der Bibel machen die Menschen wieder beweglich. Das „Steh auf und geh!“ setzt den bisher Lahmen wieder auf den Weg. Er kann wieder auf eigenen Füßen stehen und gehen. Auch der Blinde ist im Gehen und Orientieren eingeschränkt. Und das „Deine Sünden sind dir vergeben!“ räumt den ganzen Schutt beiseite, der das Gehen behindert. Damit sind wir beim ungeliebten Begriff der „Sünde“: „Alles was diesen inneren Möglichkeiten entgegensteht und den Menschen daran hindert, zu wachsen und zu reifen, nennt die Bibel ‚Sünde‘“.

Himmlische und irdische Liebe

Ein unerschöpfliches Thema ist Religion und Sexualität, wobei hier vieles schiefgelaufen ist. Die Bibel unterscheidet nicht zwischen der Liebe Gottes und der menschlichen Liebe, sie verwendet dafür ein und dasselbe Wort. Und im Bereich der menschlichen Liebe steht dieselbe Wortfamilie für die Liebe zum Nächsten und die sinnliche Erotik. „Die hebräische Bibel kennt also weder die christliche Differenzierung zwischen himmlischer und irdischer Liebe, noch teilt sie die menschliche Existenz auf zwischen ‚heilig‘ und ‚weltlich‘.“ Liebe ist Ergriffenheit und Sorge um das Wohl des anderen.

Nicht Seele haben, sondern Seele sein

Auch mit dem Begriff „Seele“ ist es nicht so einfach, denn der kommt im Neuen Testament gar nicht vor. Das kommt auch daher, dass der Mensch damals als Einheit gesehen wurde, die heute immer mitgedachte Spaltung zwischen Körper und Seele kam sehr viel später. Im biblischen Hebräisch heißt die den Körper belebende Kraft „nefesch“, „neschama“ und „ruach“. Alle drei Begriffe haben mit dem Atem zu tun. Der Lebensatem ist das, was den Menschen lebendig macht. Der Mensch hat also nicht Seele, sondern ist Seele. Leben ist das, was an Potenzial im Menschen steckt, und „Leben beinhaltet mehr Potenzial als menschlicher Verstand sich auszudenken vermag“. Die „objektive“ Biografie sagt immer viel zu wenig.

Weg und Ziel

Gefährlich auch, wer sich am Ziel wähnt. Mettnitzer zitiert André Gide, der rät, sich an die zu halten, die die Wahrheit suchen, und sich vor denen zu hüten, die glauben, sie gefunden zu haben. Und gerade das vermittelt die Bibel nicht…

Arnold Mettnitzer

„Steh auf und geh. Die therapeutische Kraft biblischer Texte“

Verlag Styria premium 2013, Halbleinen, 160 Seiten

ISBN 978-3-222-13421-0

EUR 16,99

Über Robert Harsieber

Philosoph, Wissenschaftsjournalist, Verleger (RHVerlag), Mitarbeit an verschiedenen Projekten. Philosophische Praxis: Oft geht es darum, Menschen dabei zu helfen, ihr eigenes Weltbild zu erkunden. Interesse: Welt- und Menschenbilder, insbesondere die Frage eines zeitgemäßen Welt- und Menschenbildes.
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