Der „Beobachtereffekt“

yin_yang2Der „Beobachtereffekt“ ist einer jener unglücklichen Begriffe der Naturwissenschaft (wie auch z.B. jener der „Chaostheorie“ oder des „Gottesteilchens“), die nicht nur unter Laien zu gravierenden Missverständnissen geführt haben und führen. Er verleitet zu der unbedachten Annahme, das Bewusstsein würde beispielsweise den Kollaps der Wellenfunktion im Doppelspaltexperiment bestimmen oder auslösen.

Physikalisch gesehen ist es nicht das Bewusstsein eines Beobachters, sondern die Messung, die den Kollaps herbeiführt, und Messung ist nichts anderes als eine physikalische Wechselwirkung mit dem Messapparat. Damit tritt das bis dahin (aufwändig künstlich) isolierte System mit der Umgebung in Wechselwirkung, und es kommt unweigerlich zur Dekohärenz. Quantenphänomene sind ja nur zu erreichen in vollkommen isolierten Situationen und/oder nahe am Nullpunkt von -273 Grad Celsius. Sobald das System mit der Umgebung in Verbindung kommt, ist es mit den Quantenphänomenen auch schon vorbei. So hebt auch jede Messung bei Verschränkungsversuchen die Verschränkung sofort auf. Beim Doppelspaltversuch ist es nicht die Beobachtung, die den Kollaps der Wellenfunktion herbeiführt, sondern die Messung als Wechselwirkung mit der Umwelt, die zur Dekohärenz führt.

Philosophische Aspekte
Allerdings geht es in der Quantenphysik auch um gravierende philosophische Probleme und Konsequenzen. Sie ist ja im Dialog zwischen Physik, Mathematik und Philosophie (Erkenntnistheorie) entstanden. Wir müssen davon ausgehen, dass Naturwissenschaft nicht die Beschreibung der Natur ist, sondern der Natur, die unserer Fragestellung ausgesetzt ist (Heisenberg, Bohr) – die Beschreibung nicht der Natur, sondern unseres Sehens der Natur 1). Damit ist die Vorstellung der idealisierten Objektivität, von der die klassische Physik ausgegangen war, obsolet. Das hat aber noch nichts mit dem Beobachter speziell im Doppelspaltexperiment zu tun, sondern das gilt für die Physik oder die Naturwissenschaft ganz allgemein – und letztlich für jede Wahrnehmung.

Auch im Doppelspaltexperiment geht es nicht nur um die rein physikalische Ebene, sondern auch um die philosophische. Anton Zeilinger formuliert das Problem so: Das Photon oder Elektron zeigt sich als „Teilchen“, wenn der Weg, den es genommen hat, bekannt ist. Ist der Weg prinzipiell nicht bekannt, zeigt sich das Interferenzmuster. Das „Bekanntsein“ könnte man direkt einem Beobachter zuordnen, aber Zeilinger ist in seinen philosophischen Ausführungen – im Unterschied zu vielen anderen – sehr vorsichtig und differenziert. Das Teilchenverhalten zeigt sich nämlich auch dann, wenn es nur prinzipiell möglich ist, den Weg des „Teilchen“ zu bestimmen. Es geht also auch in dieser Interpretation um eine inhärente Eigenschaft des Systems und nicht um eine, die erst durch einen Akt des Beobachtens hinzukommt.

Prinzipiell ist es so, dass wir das, was vor dem Kollaps der Wellenfunktion geschieht, vor der Dekohärenz, gar nicht beobachten können. Das zu untersuchende System muss völlig – auch vor jeder Messung – isoliert werden. Jede Beobachtung führt uns in den Bereich des Makrokosmos, wobei auch das immer eine Beobachtung mittels Messung ist – also rein physikalisch und nicht psychologisch. Es geht nie um eine direkte Einflussnahme des Bewusstseins, auf der so viele „Quantenphilosophen“ ihre abstrusen Theorien aufbauen. Dass alles, was wir denken, tun und forschen, sich in einem Bewusstsein abspielt, ist trivial und trifft nicht nur auf die Quantenphysik, sondern auf alles zu.

Insofern ist der Beobachtereffekt nicht etwas spezifisch Quantenmechanisches, sondern trifft auf jede Wahrnehmung, auch im Makrokosmos zu. Die klassische Physik wollte das Subjekt aus der Wahrnehmung herausnehmen und postulierte eine rein objektive Realität. Die Quantenphysik hat gezeigt, dass das gar nicht möglich ist, aber nicht nur in der Quantenphysik, sondern schon in der klassischen Physik und ganz allgemein 2). Weil nämlich Subjekt und Objekt nur abstrakte Annahmen sind. Sie sind keine getrennten Entitäten, von denen eine (das Bewusstsein) auf ein anderes (auf Quantenphänomene oder irgendetwas) einwirkt. Genau dieser Dualismus wurde widerlegt. Wir müssen von einem Wahrnehmungsfeld sprechen, aus dem nicht einzelne Aspekte getrennt betrachtet werden können. Was hier ins Wanken kommt, ist die Ontologie. Wir können nicht mehr von Seiendem, von Dingen und Objekten reden, sondern von Wechselwirkung und Beziehung. Das Atom (a-tomos, das Unteilbare) ist kein Teilchen, sondern das wirklich Elementare ist Beziehung. Es gibt gar keine Subjekt-Objekt-Spaltung, sondern eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, und ohne diese Beziehung gibt es weder Subjekt noch Objekt.

Philosophie der Physik
Die philosophische Frage führt immer ins Prinzipielle. Dass wir nicht die Natur an sich, sondern nur die Natur, die unseren Fragen ausgesetzt ist, erforschen können, nicht die Natur, sondern unser Sehen der Natur (Heisenberg, Bohr), ist eine Anlehnung an die Philosophie Kants. Auch Einstein – sonst eher ein Gegner Heisenbergs – sah das so, wenn er feststellte, dass die Theorie bestimmt, was wir sehen können 3). Damit ist Naturwissenschaft eigentlich auch Erkenntnistheorie und lässt sich nicht mehr gänzlich von der Philosophie abkoppeln.

Zwar stellt die Philosophie die Fragen, die nicht zu stellen das Erfolgsrezept der Naturwissenschaft war (Carl Friedrich v. Weizsäcker 4), doch ist es seit der Quantenphysik nicht mehr möglich, Physik völlig unter Absehen von philosophischen Fragen zu betreiben. Es gibt Physiker, die sich nur auf die mathematischen Formulierungen stützen, die eindeutig und auch logisch widerspruchsfrei sind, aber sobald man an deren (notwendige) Interpretation geht, kommt man an philosophischen Fragen nicht vorbei.

Das darf andererseits nicht dazu führen, reine (mehr oder weniger philosophische und mehr oder weniger dilettantische) Spekulationen als Physik zu verkaufen, was heute nahezu salonfähig geworden ist. Dabei muss man auch hier differenzieren. Viele Physiker haben auch philosophische Ambitionen und das ist ihr gutes Recht. Die Quantenmechanik ist im Dialog zwischen der physikalischen, mathematischen und philosophischen Ebene entstanden und wäre anders gar nicht denkbar gewesen.

Einstein war unter anderem von Ernst Mach beeinflusst, Heisenberg war ein durch und durch philosophischer Geist, und Niels Bohrs Begriff der Komplementarität gewann er aus dem Dialog mit dem Daoismus. Bei Wolfgang Pauli kam noch die Beschäftigung mit der Psychologie C.G. Jungs und vor allem der eigenen Psyche hinzu. Schrödinger war zeitlebens Anhänger des Vedanta. Gemeinsam ist allen, dass sie ihr Weltbild und ihre Philosophie nicht als Physik verkauften, dass sie Philosophie und Physik nicht so platt vermischten, wie das heute gang und gäbe ist. Differenziertes Denken wurde noch nicht so mit Füßen getreten wie von den heutigen Quanten- und Bewusstseinsphantasten.

Mensch und Wissenschaftler
Es lohnt, sich mit den Biografien der großen Physiker zu beschäftigen, denn es ist klar, dass auch ihre Forschungstätigkeit von ihrem Weltbild abhängig ist. Das sieht man am deutlichsten am teils erbittert geführten Streit zwischen Einstein/Schrödinger und Heisenberg/Bohr. Paul Dirac ist auch ein eindrucksvolles Beispiel. Interessant ist auch der Unterschied im Temperament von Heisenberg und Pauli, die gleichaltrig gemeinsam studierten. Während Heisenberg sich in Bergwanderungen in der Natur erging, machte Pauli die Nächte in den Bars unsicher. Eine ähnliche Konstellation ergab sich bei dem allzeit lässigen Richard Feynman und Murray Gell-Mann. Schrödinger war nicht nur Anhänger des Vedanta, sondern auch ein Frauenheld und wahrscheinlich Narzisst, der zeitweise ganz offiziell mit zwei Frauen zusammenlebte, was ihn nicht daran hinderte, mit einer dritten sein zweites Kind zu zeugen.

Das erklärt nicht deren wissenschaftliche Arbeit, macht aber einiges verständlicher. Man darf nicht vergessen, dass es immer ganze Menschen sind, die Naturwissenschaft betreiben, und es wäre unnatürlich, eine isolierte Forscherpersönlichkeit anzunehmen. Andererseits muss man immer differenzieren zwischen Aussagen, die sie als Physiker treffen, und solchen die sie als philosophisch Interessierte äußern. So kann man religiöse Zitate von Planck, Einstein, Heisenberg oder Schrödinger (der sich als Atheist bezeichnete), aufspüren, es wäre aber unredlich, das als Statements von Physikern zu verkaufen, als wären das der Physik inhärente Aussagen. Dass dabei auch vernachlässigt wird, dass jeder der Angeführten Religion oder Religiosität ganz anders gesehen hat, kommt da noch hinzu.

Physik und Philosophie
Die klassische Physik hat im Anschluss an René Descartes die Philosophie ins Exil geschickt. Die Physiker um Werner Heisenberg, Nils Bohr und Wolfgang Pauli haben die Philosophie der Physik notgedrungen wiederentdeckt. Seither geht es auch in der Physik nicht mehr nur um „Fakten“, sondern es müssen die (mathematischen und experimentellen) Ergebnisse interpretiert werden, wie das bisher nur für die Geisteswissenschaften charakteristisch war – womit aber auch die Klarheit und Eindeutigkeit verloren ging. Eindeutigkeit ist aber auch kein Kriterium der Natur und wahrscheinlich auch nicht der Naturwissenschaft 5). Wolfgang Pauli hat diese Diskussion mitbestimmt, seine Beschäftigung mit der Psyche aber nie öffentlich gemacht und streng von seiner physikalischen Arbeit getrennt. Erwin Schrödinger hat seine philosophischen Ansichten zwar publiziert, aber nie mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in Verbindung gebracht. Diese Redlichkeit würde man sich heute wünschen, wenn vielerorts beispielsweise Quanten und Bewusstsein undifferenziert vermischt werden, der Beobachtereffekt als Effekt des Bewusstseins missverstanden wird, wobei die Autoren gleichzeitig auf jegliche differenzierte Philosophie der Physik verzichten 6).

Einstein und Schrödinger sind daran gescheitert, das deterministische Weltbild der klassischen Physik zu retten. Die Auseinandersetzung mit Heisenberg und Bohr und deren Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik war keine, die die Mathematik und Physik der Quantentheorie betraf, sondern deren Interpretation. Allerdings ist das eine Auseinandersetzung, die bis heute anhält. Sie betrifft vor allem den Welle-Teilchen-Dualismus und Niels Bohrs Begriff der Komplementarität. Wahrscheinlich besteht die „Lösung“ darin, auch die Standpunkte von Einstein/Schrödinger und Heisenberg/Bohr als komplementär zu betrachten. Die Diskontinuitäten in der Quantenphysik in die Wellenmechanik einzubauen, daran sind Einstein und Schrödinger letztlich gescheitert. Man muss wohl beide Ansichten als komplementär stehen lassen. Die Natur lässt sich nicht auf die eine oder die andere Sicht festlegen.

Angesichts der Tatsache, dass wir nicht über die Natur, sondern unser Sehen der Natur sprechen, müssen wir die „Begriffe“ Teilchen und Welle als Bilder hinnehmen, die keine klassischen Teilchen oder Wellen beschreiben. Selbst wenn wir ein „einheitliches“ Bild, nämlich das eines Feldes nehmen, das beide Sichten enthält – das Ausgedehntsein nach allen Richtungen und die Feldkonzentration, die wir als Teilchen interpretieren – so können wir auch nur den Blick auf das eine oder auf das andere richten. Auch dieses Bild kann Kontinuität und Diskontinuität nicht vereinheitlichen. Das „Sowohl als auch“ (eigentlich „Weder-noch“) kann das „Entweder-oder“ unserer Sicht auf die Wirklichkeit nicht beseitigen.

Was auch daran liegt, dass das (Welle, Teilchen oder Feld) statische Bilder sind, die das dynamische Geschehen gar nicht einfangen können 7). Diese Begriffe oder Bilder sind wie Standbilder, die nichts mehr vom Film erkennen lassen, weil die Dynamik eingefroren ist. Das Standbild kann die Dynamik nicht erfassen, während der Film auch ruhende Situationen darstellen kann. Aber auch das ist nur ein Bild….

© R. Harsieber



1 „… wir müssen uns daran erinnern, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist.“ Werner Heisenberg: Quantentheorie und Philosophie. Reclam 2003, S 60

2 „Insofern enthält in der heutigen Naturwissenschaft jeder physikalische Sachverhalt objektive und subjektive Züge. Die objektive Welt der Naturwissenschaft des vorigen [19.] Jahrhunderts war, wie wir jetzt wissen, ein idealer Grenzbegriff, aber nicht die Wirklichkeit.“ Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. dtv, 2. Aufl. 1975, S 108

3 „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“ Albert Einstein, zit. in: Werner Heisenberg: Quantentheorie und Philosophie, S 31

4 „Das Verhältnis der Philosophie zur sogenannten positiven Wissenschaft lässt sich auf die Formel bringen: Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war. Damit ist also behauptet, dass die Wissenschaft ihren Erfolg unter anderem dem Verzicht auf das Stellen gewisser Fragen verdankt. Diese sind insbesondere die eigenen Grundfragen des jeweiligen Fachs.“ Carl Friedrich v. Weizsäcker: Deutlichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen. Hanser Verlag 1978, S. 167

5 „Das Beharren auf der Forderung nach völliger logischer Klarheit würde wahrscheinlich die Wissenschaft unmöglich machen.“ Werner Heisenberg: Physik und Philosophie. Ullstein 1970, S 65

6 Beispiele erspare ich mir hier, sie sind viel kompetenter nachzulesen in: Holm Hümmler, Relativer Quantenquark. Kann die moderne Physik die Esoterik belegen? Springer Verlag, 2. erweiterte Aufl. 2019.
Oder in: Jean Bricmont, Quantensinn und Quantenunsinn. Springer Verlag 2018

7 „Wir tun so, als sei das elektrisch geladene Teilchen genauso ein Ding wie ein elektrisch geladenes Öltröpfchen oder ein Holundermarkkügelchen aus den alten Apparaten. Wir wenden völlig unbesehen die Begriffe der klassischen Physik darauf an, so als ob wir noch nie von den Grenzen dieser Begriffe und von den Unbestimmtheitsrelationen gehört hätten. Können dadurch nicht doch Fehler entstehen?“ Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, dtv, 2. Aufl., S 154 f.

Über Robert Harsieber

Philosoph, Wissenschaftsjournalist, Verleger (RHVerlag), Mitarbeit an verschiedenen Projekten. Philosophische Praxis: Oft geht es darum, Menschen dabei zu helfen, ihr eigenes Weltbild zu erkunden. Interesse: Welt- und Menschenbilder, insbesondere die Frage eines zeitgemäßen Welt- und Menschenbildes.
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