In heutigen hitzigen Diskussionen um Migrationshintergrund, Islamismus, Terrorismus hört man immer öfter den Slogan: Die haben die Aufklärung nicht mitgemacht. Was heißen soll, wir haben denen etwas voraus, das uns zu besseren Menschen macht. Provokante Frage: Kann es sein, dass diese Menschen NUR die Aufklärung mitgemacht haben? Die amerikanische Philosophin Susan Neiman macht es am Erwachen-Werden fest. Aber ist Erwachen-Werden nicht eine Utopie? Trotz Aufklärung?
Der ganze Terrorismus, auch der Islamismus, haben nichts mit dem Koran zu tun, sondern mit dem Westen (um das Wort „Christentum“ hier zu vermeiden, weil es auch nicht am Platz wäre). Es sind zuallermeist westlich geschulte, erzogene, in irgendeiner Weise westlich infizierte Menschen. Und den anderen steckt der Kolonialismus in den Knochen. Und sehr oft überschneidet sich beides. (Das hier soll aber keine Schuldzuweisung sein, sondern ein Reflektieren der Verflechtungen).
Diese Menschen sind also sehr wohl mit der aufgeklärten Kultur in Berührung gekommen, auf die wir uns so viel einbilden. Aber, Hand aufs Herz (das ist so Mitte links in der Brust), unsere vielgerühmte Aufklärung kam mit einer (mehr als pubertären, französischen) Revolution, begleitet von einer bahnbrechenden Erfindung, der Guillotine, die standesgemäß und fabrikmäßig industriell das erledigte, was der IS heute noch in Handarbeit erledigt. Kein Wunder, dass die aufgeklärte Französische Revolution da sehr viel effizienter war.
Aber genug des Zynismus… Die Aufklärung war jedenfalls blutig erkämpft, und das nicht wegen des Widerstands der Kirche, die aufklärende Tendenzen längst vorweggenommen, sich dann aber dagegen gewehrt hat. Die Frage ist nur, warum kommt die Aufklärung so blutig daher?
Vorweg: Die Aufklärung war – wenn man sie nicht mit der einseitigen europäischen Logik, sondern einer ganzheitlichen asiatischen, oder wahlweise mit einer Psycho-Logik betrachtet – einerseits ein ungeheurer Fortschritt (weil sie mit Aberglauben, Unfreiheit, Unterdrückung – wenn auch mit neuer Unterdrückung – aufgeräumt hat), andererseits ein ungeheurer Rückschritt (weil sie das bisher „ganzheitliche“ Weltbild auf ein reduziertes Schrebergarten-Weltbild, das nur mehr oberflächlich Materielles, „Objektives“ gelten lässt, zurechtgeschnitten hat).
Die Aufklärung hat, auch wenn sie Menschliches hervorbringen wollte, parallel zur Naturwissenschaft, das Individuum, und damit den Menschen, aus dem Diskurs herausgenommen. Daher weist Susan Neiman darauf hin, dass es die Aufklärer waren, die vor Lesesucht oder Onanie warnten und deren ‚Sapere aude!‘ sich selbstverständlich vor allem an den männlichen Bürger richtete. Und auf Rousseau etwa, der über die Frage der Erziehung als philosophisches Problem nachdachte, aber seine eigenen Kinder ins Waisenhaus schickte. Da könnte man noch, unter anderem hinzufügen, dass Robespierre, der seine Probleme mittele Guillotine zu lösen versuchte, so feinfühlig war, sein Subjekt herauszunehmen, keiner Hinrichtung beizuwohnen – außer seiner eigenen natürlich.
Mit dem undifferenzierten Wüten gegen alles Religiöse hatte man auch ein menschliches Regulativ eliminiert, das dann bitter fehlte. Man wollte an die Stelle des Herrschers den (mündigen?, aber wollte man das wirklich?) Bürger stellen, beraubte aber den Menschen gleichzeitig einer anthropologisch wichtigen Dimension des Spirituellen. Man köpfte ihn sozusagen. Und ein derart auf das Rationale reduzierter, amputierter Mensch ist dann letztlich auch nicht mehr in der Lage, vernünftig zu denken, jedenfalls nicht vernünftig zu handeln.
So ist der Vorwurf an die Islamisten, der Islam (den die Islamisten ja am allerwenigsten ernst nehmen) hätte die Aufklärung nachzuholen, doch nur ein Schuss ins eigene Knie. Oder sollten wir ihnen unsere Erfindung der Guillotine schicken, damit sie ihre Feinde humaner erledigen können? Oder sollten wir ihnen ans Herz legen, ihre Religion soweit bis zur Unkenntlichkeit zurückzudrängen, wie wir das gemacht haben, damit sie nicht für ihre Religion morden müssen, sondern friedlich im Konsum ersticken können wie wir im Westen? Alle diese Empfehlungen sind weder aufklärerisch, noch vernünftig.
Susan Neiman hat schon Recht, die heutigen Probleme hängen damit zusammen, dass die Menschheit noch nicht erwachsen geworden ist, sondern auf verschiedene Weise in der Pubertät stecken geblieben ist. Der Westen erstickt im pubertären Haben-Wollen, der Nahe Osten im pubertären Dreinschlagen, und Indien z.B. im unbeherrschten und ungezügelten, brutalen Macho-Sexismus. Alles nur verschiedene Formen des (fehlgeleiteten) pubertären Umbauprozesses.
Kontrastieren wir das noch mit dem Ende des Lebens: Die meisten sterben allein, verlassen, in einem Gangbett im Spital, buchstäblich zu Tode operiert, denn eines natürlichen Todes zu sterben, ist in unserer Gesellschaft nicht mehr möglich. Alte Menschen, deren faltiges Gesicht so etwas sie Lebenserfahrung und Weisheit ausstrahlen, kennen wir nur mehr aus alten Fotos. Das verhindern wir ganz effektiv mit Jugendwahn und Botox. Unser Bild vom Altern: Wir haben den senilen Alten an die Stelle des alten Weisen gesetzt. Was auch folgerichtig ist, denn wenn man uns nicht mehr erwachsen werden lässt, wie sollen wir human altern können? Die Zeit zwischen Pubertät und Alter ist ausgefüllt mit Beruf, Wirtschaft, Konkurrenzkampf, Karriereleiter, Ellbogentechnik, Arbeitssucht und Technologie statt Menschlichkeit. Mit einem Wort: eine pubertäre Welt! Und am Ende steht dann nicht reifes Altern, sondern pathologisches Burn-out.
Die erwachsene Welt mit Überwindung des Ego, Integration des eigenen Schattens, Solidarität, Altruismus, Verständnis, Beziehung, Liebe – die kann in dieser Welt einfach nicht gedeihen. Und wenn diese pubertäre Welt sich irgendwo im Extremen zeigt, wie heute im IS, dann sind wir entsetzt – und sehen nicht, dass unsere Welt ebenfalls voll ist mit Halsabschneidern. Diese Art von Halsabschneiden ist unauffälliger, dauert länger, aber effektiv ist sie allemal. Und nennt man beim Töten die Langsamkeit nicht Folter? Auch wieder nicht, man hat die Opfer ja längst betäubt. Sie sollen es ja nicht merken.
Wer sich nicht selbst in den Spiegel schauen kann, dem hält das Leben den Spiegel vor. Das gilt auch für Kulturen. Entgegen dem albernen „clash of civilization“ sind die Geschehnisse in der arabischen Welt auch ein Spiegel für die westliche Welt. So unter dem Aspekt des Schattens betrachtet. Ganz abgesehen von Fragen wie: Wo hat die westliche Welt mitgemischt? Wo hat sie genau das verursacht, was sie jetzt bekämpft? Wo hat sie mitfinanziert? Und wo liefert sie noch immer Waffen und Kriegsmaterial? Wo beantworten wir sinnloses Dreinschlagen mit ebensolchem sinnlosen Dreinschlagen? Aber zu sehen, wie alles mit allem zusammenhängt, ist mit der europäischen Logik nicht möglich.
Was wäre denn wirklich erwachsen?
Psychologisch gesehen hieße es, den eigenen Schatten nicht (im anderen) zu bekämpfen, sondern ihn zu integrieren. Soziologisch gesehen hieße es, nicht Migrationshintergründe abzuwehren, sondern Menschen als Menschen zu behandeln. Und spirituell hieße es, die Welt nicht auf „Objektives“, Materielles zu reduzieren, sondern offen zu sein für das ganz andere. Dabei geht es noch gar nicht um die Frage, ob es Gott gibt oder nicht, sondern schon der Mensch ist nicht auf das Faktische zu reduzieren, ist immer schon mehr als Mensch.
Oder ganz banal gesagt: Der Mensch ist nicht physikalisch und biologisch allein zu begreifen. Da gehört schon die psychologische, psychosoziale, soziologische, philosophische und theologische Perspektive dazu. Denn das Fächerspektrum der Universität (das wir ja heute auch in pubertärer Weise zerschlagen wollen) ist deshalb entstanden, weil alle Fächer zum erwachsenen Menschsein dazugehören.