Am 18. Mai 2014 starb der Physiker Hans-Peter Dürr. Hier ein Artikel auf Newsgrape 2011:
Der Physiker, Heisenberg-Schüler, Friedensnobelpreisträger und Träger des Alternativnobelpreises, Hans-Peter Dürr, erklärt die Grundlagen eines neuen Denkens, auf dessen Basis wir im 21. Jahrhundert handeln müssen.
„Ich habe 50 Jahre – mein ganzes Forscherleben – damit verbracht, zu fragen, was eigentlich hinter der Materie steckt. Das Endergebnis ist ganz einfach: Es gibt keine Materie! Ich habe 50 Jahre an etwas gearbeitet, was es gar nicht gibt! Aber das ist ganz aufregend.“ Und es hat vor allem weitreichende Konsequenzen.
Wenn die heutige Welt voller Krisen ist, dann auch deshalb, weil wir eine falsche Vorstellung von dieser Welt haben. Wir haben uns in ein engstes Bild der Welt hineindrängen lassen, und in dieser Enge gibt es keine Lösungen. Wir leben in einer verknöcherten Welt, aus der es für H.-P. Dürr jedoch einen Ausweg gibt in eine Welt voller Leben. „Wir müssen nur ein paar Zäune überspringen, dann sind wir wieder in der freien Natur und können uns wieder bewegen. Das Problem ist nur, dass viele diese Zäune für unüberwindliche Mauern halten.“
Der Weg dazu heißt Lockerung, Entkrampfung, Befreiung von diesen Fesseln, und dem Leben wieder die Lebendigkeit zurückzugewinnen. Das heißt für den Physiker aber auch, dass wir wieder die spirituelle Dimension unserer Existenz erkennen, die wir verdrängt haben. Dafür brauchen wir keine Esoteriker zu werden, sondern das ist etwas ganz Solides, zu dem wir alle Zugang haben. Es sind naturwissenschaftliche Überlegungen, dass nicht die Materie das Fundament unserer Wirklichkeit ist, sondern etwas Spirituelles, das sich nicht be-greifen lässt. „Aber der Ausdruck Fundament ist falsch, weil wir da an Substanz denken. Die Grundlage unserer Wirklichkeit hat kein Fundament, sondern im Grunde ist etwas Lebendiges. Unsere Aufgabe ist es, mit dieser Lebendigkeit wieder den Freiraum zu bekommen, in dem wir unsere Probleme auch lösen können.“
Nachhaltigkeit
Es geht für H.-P. Dürr nicht darum, den jetzigen Zustand der Welt zu erhalten, sondern deren Dynamik. Das immer Lebendiger-Werden-Lassen, und zwar nicht des Menschen allein, sondern des gesamten Biosystems auf drei Ebenen: die natürlichen Lebensgrundlagen, das friedliche Miteinander der Menschen in Gerechtigkeit und ein lebenswertes Leben in physischer, emotionaler und spiritueller Hinsicht.
Zentrale gesellschaftliche Aufgabe ist unsere Zukunftsfähigkeit (Nachhaltigkeit). „Dazu ist aber eine Neuorientierung nötig. Im Rahmen der alten Weltvorstellung, nach der wir uns als Rädchen in einer Maschine verstehen müssen, haben wir keine Handlungsfähigkeit.“ Wenn der Mensch nicht erkennt, dass er eingebettet ist in ein größeres Ganzes, dann ist er der erste, der abstürzen wird.
Wir leiden unter dem Verlust der geistigen Dimension – viele wissen gar nicht mehr, was das ist. Aber wir können gar nicht von dem leben, was greifbar ist, so der Physiker. Viele sagen: Ich bin ganz rational, ich glaube nur, was ich beweisen kann. „Man kann gar nicht so leben, dieser Eindruck täuscht. Wer das denkt, hat gar nichts verstanden. Trotzdem lebt er weiter, weil im Hintergrund doch etwas ist, was er nur negiert. Das Herz schlägt weiter, auch wenn man nicht daran glaubt, dass es schlägt. Im Hintergrund ist eine Beziehungsstruktur, die alles in Gang hält.“
Überholtes Denken
Unsere Denkweise ist die des 19. Jahrhunderts: die Welt als Maschine, materiell und mechanistisch. Aber die heutige Technik ist auf einer ganz anderen Vorstellung aufgebaut. Sie beruht auf einer völlig neuen Betrachtung, die sich vor 100 Jahren herausgebildet hat. Aber diese Vorstellung haben wir uns nicht zu eigen gemacht. Die bislang ignorierte neue Sicht hat aus der Technik eine Technologie gemacht – eine Lehre, für die es noch keine Lehrer gibt. „Glauben Sie nur nicht, dass sie wissen, was da passiert, wenn Sie Ihren Computer einschalten. Sie können es in der alten Sprache gar nicht mehr benennen. Und jetzt wollen wir das 21. Jahrhundert gestalten mit der falschen Denke und der modernen Technologie! Das kann nur in den Graben gehen!“
Warum hängen wir so an diesem alten materialistischen und mechanistischen Denken? Die Antwort des Physikers: Weil es begreifbar ist. Materie ist etwas, das ich (be)greifen kann, das „meines“ sein kann. Das führt auch zur „Wettbewerbsfähigkeit“, dazu dass jeder den anderen überholen will, ohne dabei auf die Richtung zu achten. Es ist also notwendig, aus unserer Begrenzung herauszukommen zu einer Offenheit und Kreativität.
Dann ist auch die Zukunft nicht fixiert durch Naturgesetze, sondern offen. Und dann ergibt auch die Frage, welche Zukunft wir wollen, wieder einen Sinn. Wir alle haben die Veranlagung zum homo sapiens sapiens, ist H.-P. Dürr überzeugt, aber wir geben uns nicht die Mühe, den Menschen auch dorthin zu bringen. Wir sprechen von Arbeitsplätzen, aber nicht von Menschen. „Statt dass die Technik dafür da ist, diesen Menschen zu entfalten, hecheln wir hinter dieser Technik her, damit wir deren Anforderungen gerecht werden. So können wir aber nicht zu einem würdigen Leben kommen.“
Elemente des neuen Denkens
1. Es gibt keine Realität
Nach der alten Vorstellung ist die Welt da draußen das, was ich wahrnehme. Und das ist hauptsächlich Materie. Deshalb nennen wir die Welt Realität (von lat. res), die dingliche Welt, etwas, das wir be-greifen können. Für die Anordnung der Materie in der Zeit gelten strenge Naturgesetze, daher können wir „prophezeien“, was kommt und sagen, was in der Vergangenheit war. Daher der Eindruck, wir können die Welt prinzipiell in den Griff bekommen. Aber wir wissen nicht so recht, was wir mit uns selbst machen. „Wenn wir nämlich Teil dieser Maschine sind, dann nützt uns das gar nichts. Denn alles, was wir verändern, ist wieder nur Teil der Maschine.
Aus dieser Problematik heraus haben wir den Menschen aus der Natur herausgehoben, und auch den Schöpfer haben wir aus der Schöpfung herausgenommen. Seither identifizieren wir uns mit dem Schöpfergott. Wir führen sein Werk weiter und davon kommt unsere Überheblichkeit. Wir fühlen uns als Herren der Schöpfung und vergessen, dass wir selbst irgendwie eingebettet sind in den Rest.“ Aus dieser Arroganz heraus glauben wir, dass die Welt begreifbar ist, dass wir die Welt in den Griff bekommen, wenn wir nur weitermachen mit unserem Fortschritt. Jetzt sind wir schon so weit zu glauben, dass wir nicht nur die unbelebte Welt in den Griff bekommen, sondern auch das Lebende müsste letztlich für uns verstehbar und begreifbar sein, wir brauchen nur noch die Naturgesetzlichkeit dazu.
Aber die moderne Physik hat gezeigt, dass es im Hintergrund total anders ist. Werner Heisenberg formulierte es so: „Die Quantentheorie ist ein gutes Beispiel dafür, dass man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig weiß, dass man nur in Gleichnissen und Bildern darüber reden kann.“ Die Naturwissenschaft ist damit an einem Punkt angelangt, wo sie die Annahme, dass sie einmal alles genau wissen wird, aufgeben muss, dass auch sie eine Sprache verwenden muss, die für uns – mit unserer Umgangssprache – nicht mehr zugänglich ist.
2. Materie ist nicht Materie
Im Grunde ist Materie nicht Materie. Es gibt keine Mikro-Objekte, es gibt nur eine Beziehungsstruktur. Die Frage, was ist und was existiert, kann nicht mehr gestellt werden. Und wenn diese Frage keinen Sinn mehr ergibt, dann bleibt uns auch die Sprache weg. Es bleibt nur die Frage, was passiert und was bindet – und nicht was Teile verbindet. Was für uns völlig ungewohnt ist: Es gibt gewisse Fragen, die keine Antwort haben, nicht aus Ignoranz, sondern weil es keine Antwort gibt.
Die Welt ist nicht immateriell, sondern a-materiell. Die Frage nach der Materie ist sinnlos geworden. Wie die Frage: Welche Farbe hat ein Kreis? Der gemalte Kreis hat eine Farbe, aber diese ist nicht Eigenschaft des Kreises. Wer mit seinem Handy mit Paris telefoniert, macht etwas völlig A-Materielles. Die „Schwingungen“ sind – da es auch keinen Äther gibt – nur Dellen im Nichts, die auch in Paris wahrgenommen werden. „Wir arbeiten da mit einer reinen Gestaltstruktur. Die Lokalisierung, das Materielle spielt dabei überhaupt keine Rolle mehr. Es gibt nichts Lokalisiertes, die Gestalt ist etwas, das über das ganze Weltall ausgebreitet ist. Eine Auflösung in Teile existiert gar nicht. Die Wirklichkeit ist nicht Realität, sondern Potenzialität, die sich energetisch und materiell manifestieren kann. Und die ist auch nicht räumlich lokalisiert.
Die Welt hat daher überhaupt keine Ränder, es gibt nur das Eine – wir könnten sagen: das Ganze, aber das ist auch nicht das richtige Wort. Dass Ganze ist etwas, dem kein Teil fehlt. Wenn es aber gar keine Teile gibt, kann ich es auch nicht das Ganze nennen. „Das hat selbstverständlich fantastische Konsequenzen. Wir alle, die wir in diesem Raum sitzen, wir sind wohl unterschiedlich, aber nicht getrennt. Wir sind alle in einer Gemeinsamkeit, und das ist eine wesentliche Voraussetzung, dass wir überhaupt miteinander kommunizieren können.“ Die Welt ist das Ganz-Eine. Im Sanskrit nennt man das „advaita“, Nicht-Zweiheit, etwas, das man gar nicht aufteilen kann. Eine Zerstückelung ist gar nicht möglich.
3. Offenheit der Zukunft
Die Zukunft ist nicht eindeutig determiniert. Sie ist nicht total beliebig, sondern unendlich offen. Aber die Tendenz ist irgendwie doch festgelegt auf eine Weise, die vom Vorhergehenden beeinflusst ist. Daher geht die Evolution auch in einer gewissen Weise weiter. Wieder stellt der Physiker unsere Vorstellungen auf den Kopf: Im Urgrund ist etwas, das dem Lebendigen viel näher kommt als der Materie.
Es gibt echte Kreativität. Aus nichts kann auch etwas entstehen, und wenn etwas da ist, kann es auch wieder ins Nichts verschwinden. In unserer Sprache haben wir eine Kreativität-feindliche Welt. Das höchste der Gefühle ist Entfaltung und Entwicklung. Wir haben jedoch eine Welt, in der wir die Begriffe von Entfaltung und Entwicklung nicht mehr brauchen können. Entfaltet wird etwas, das schon da ist. In Wirklichkeit kommt aber etwas neu dazu.
Die Wissenschaft büßt in diesem neuen Denken ihre Vorrangstellung ein, sie kann nicht mehr sagen, was ist und was nicht. Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen. Sie hat die Materie in immer kleinere Teile zerlegt bis zu dem Punkt, wo die Wirklichkeit den Naturgesetzen widerspricht. „Die Naturgesetze sind falsch und es gibt die Materie nicht mehr. Es bleibt eine Art Schwingung oder Schwingungsfigur – wie Ihr Gespräch im elektromagnetischen Feld: nicht materiell im eigentlichen Sinne.“
Fischen nach der Wirklichkeit?
Naturwissenschaftler sind wie Fischer, die nur Fische fangen, die größer sind als die Maschenweite ihrer Netze (Messinstrumente). Sie definieren „Fische“ als das, was sie fangen können. Sie wissen daher gar nicht, was ein Fisch ist, und auch nicht, was ein Stück Holz (ihr Maßstab) ist, sondern sie kennen nur die Beziehung zwischen Maßstab und Fisch, z.B. 5 (die Maschenweite des Netzes). Die Mathematik ist eine andere Sprache als unsere Umgangssprache, die auf Substantiven aufbaut, in der es um Dinge, nicht um Beziehungen geht.
Bei der neuen Physik kommt aber noch hinzu, dass wir mit dem Experimentieren die Welt verändern. Das bedeutet, dass ein Naturwissenschaftler nicht nur ein Netz hat, mit dem er etwas aus der Wirklichkeit herauszieht, sondern er hat gleichsam einen Fleischwolf, steckt die Welt oben rein und zerstört damit die Struktur. Vorne kommen Würstchen heraus und er sagt, die Welt ist aus Würstchen zusammengesetzt. Und wenn ein anderer ein anderes Blatt am Ende hat, kommen Nudeln heraus und er behauptet, die Welt ist aus Nudeln aufgebaut.
Die verwendete Form hat in der neuen Physik gar nichts mit der Struktur der Welt zu tun. Daher haben wir verschiedenen Aussagen, die in Widerspruch zueinander stehen – aber das ist keine Aussage über die Wirklichkeit, deren Struktur wir mit unserer Sprache gar nicht erkennen können.
Robert Harsieber
Hat dies auf Yoga – Philosophie rebloggt.
Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag – insbesondere den Absatz: “ Elemente des neuen Denkens“ fand ich sehr fesselnd. Auf Ihrer Seite ist generell viel interessanter Lesestoff für Wissensdurstige Leser zu finden!
Danke herzlichst!
Ein interessanter, gut zu lesener Eintrag. Vielen Dank.
In unserer Sprache haben wir eine Kreativität-feindliche Welt. Das höchste der Gefühle ist Entfaltung und Entwicklung. Wir haben jedoch eine Welt, in der wir die Begriffe von Entfaltung und Entwicklung nicht mehr brauchen können. Entfaltet wird etwas, das schon da ist. In Wirklichkeit kommt aber etwas neu dazu.
„Kreativ sein“ beinhaltet Versuch und Irrtum – beides ist es gleichermaßen.
Ob der Verstand freiwillig seine Gewohnheit aufgeben wird, Neues auf schon Erfahrenem aufzubauen?
Ein Leben ohne „Geländer“ ist ihm suspekt. Meistens jedenfalls.
Es sei denn, wir nehmen ihm die Angst und trainieren ihn, zeigen ihm, dass die alten Muster nicht mehr wirksam sind – ein ziemlich mühsames Unterfangen 😉
Was warten wir noch? Jeder Einzelne ist gefragt – ohne Rückversicherung.
Herzlich
Barbara