Was Liebe, ein Blitz und Wahrscheinlichkeitswellen gemeinsam haben.
Der amerikanische Neurologe Oliver Sacks („Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“) berichtet von einem Mann, der nach einer Party im Freien in einer Telefonzelle von einem Blitz getroffen wird, der durch den Telefonhörer über seinen Kopf durch seinen ganzen Körper in die Erde fuhr. Der Mann wurde von einer Ärztin, die hinter ihm stand, weil sie auch telefonieren wollte, reanimiert und überlebte ohne bleibende Störungen. Nach drei oder vier Wochen allerdings spürte er plötzlich eine unbändige Attraktion für Musik. Der bis zu diesem Zeitpunkt ohne jedes Interesse für Musik gelebt hatte, begann, sich selbst das Klavierspiel beizubringen, auf einem Klavier, das per „Zufall“ bei ihm abgestellt wurde. Er begann zu komponieren, gab bald Konzerte, sein ganzes Leben drehte sich nur mehr und ausschließlich um Musik…
Eine ziemlich exzentrische Geschichte, aber sie könnte auch ein gutes Bild abgeben, was man so „Liebe auf den ersten Blick“ nennt – so man an diese glaubt. (Aber da geht es nicht ums glauben, sondern darum, ob man sie einmal erlebt hat oder nicht). Man sieht jemand und ist wie vom Blitz getroffen. So intensiv wie überraschend und völlig unvorbereitet. Das hat wenig mit äußerlicher Attraktion zu tun, auch wenn Attraktivität natürlich schon eine Rolle spielt. Man „weiß“ gar nichts über diese Person, es ist vielmehr eine überwältigende innere seelische Resonanz, die über das Ich und über jegliches Wissen weit hinausgeht. Eine Erfahrung, die das Leben verändert, oder zumindest die Sicht auf das Leben.
Ein anderes Beispiel, diesmal aus der Physik: Ende des 19. Jahrhunderts dachten die Physiker, sie bräuchten jetzt nur mehr die kleinsten Bausteine der Welt zu entdecken und könnten damit die ganze Welt, inklusive des menschlichen Gehirns, erklären. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dann bald klar, dass es so etwas wie materielle „kleinste Bausteine“ der Welt gar nicht gibt. Was die Welt im subatomaren Bereich zusammenhält, kann man mit „Wahrscheinlichkeitswellen“ mathematisch exakt berechnen – aber es geht über das menschliche Vorstellungsvermögen weit hinaus. Da geht es nicht mehr um „Realität“, sondern um Überlagerungszustände von Potenzialitäten, die durch Messung in die „Realität“ kollabieren können. Das hat nichts mehr mit einer dinglichen Wirklichkeit zu tun (der naive Materialismus ist längst widerlegt), sondern ist, wie Hans-Peter Dürr sagt, reine Beziehung – und zwar nur Beziehung, nicht Beziehung von „etwas“.
Ist nicht das, was man „Liebe auf den ersten Blick“ nennt, auch „nur“ Beziehung, reine Beziehung, noch nicht Beziehung von Etwas oder Jemand. Man „kennt“ den anderen noch gar nicht, es gibt kein „Etwas“, oder in diesem Fall kein „Jemand“, sondern nur diese plötzlich überwältigende innere Resonanz. Die kann aus dieser Potenzialität in die Realität „kollabieren“, wenn sie sich an den realen Personen „messen“ lässt. Wenn nicht, bleibt sie doch wirklich. Liebe ist nicht abhängig von Gegenliebe, ist reine Beziehung, dieser Zustand des Dazwischen, gar nicht abhängig vom anderen Etwas oder Jemand.
Selbst diese Liebe muss nicht automatisch auf Gegenliebe stoßen. Es betrifft zunächst nur mich. Es ist schön, jemand zu lieben. Es ist auch schön, überhaupt zu lieben. Nur so wissen wir, dass wir leben.
Und von der Physik zur Metaphysik: Eines der schwierigsten „Probleme“ der Theologie ist doch die Trinität – wobei mit der Formel „Ein Gott in drei Personen“ so gut wie gar nichts gesagt ist. „Gott“ ist eine Leerformel geworden für den unvorstellbaren Ursprung der Welt, des Lebens und des Menschen. „Person“ bedeutet im heutigen Sprachgebrauch so ziemlich das Gegenteil dessen, was im Griechischen damit gemeint war: nämlich nicht die konkrete „Person“, sondern das unsichtbar Dahinterstehende, das die Maske (im Theater) zum Leben erweckt. Trinität ist aber wieder nichts anderes als Beziehung, reine Beziehung, nicht Beziehung zwischen Jemand. Liebe als reines Beziehungsgeschehen.
Ist doch nicht uninteressant, dass man von Physik über Neurologie bis zur Theologie die gleiche Grundstruktur findet, sozusagen die Matrix dieser Welt. Ist es da gar so unverständlich, dass die Welt nur in dieser Grundstruktur der Liebe, dieser Beziehungsstruktur, wirklich funktionieren kann? Und dass alles, was davon abweicht, zu Krieg und Zerstörung führt?
Und an die Jüngeren unter uns: Genügt es wirklich, dass zwei Menschen einfach aufeinander treffen, oder sollte man sich nicht manchmal auch fragen, ob es dieses Dazwischen, das weit über jedes Ich, über jedes Wissen, über jedes Machen können hinausgeht, auch gibt? Dass nur diese die Basis für eine wirkliche Beziehung ist. Weil dieses „Dazwischen“ die eigentliche Wirklichkeit ist, wesentlich realer als jedes Etwas oder Jemand.
Liebe „macht“ man nicht, von Liebe wird man überwältigt. Sie geht immer über alles Bisherige hinaus. Sie zeigt – jenseits aller Theorie – dass der Mensch weit mehr ist als Mensch (David Steindl-Rast). Wenn ich schon nicht an die Transzendenz der Theologen und Philosophen glaube, die Transzendenz der Liebe ist etwas ganz Handgreifliches und Erfahrbares. Sie übersteigt jegliches Vorstellungsvermögen (wie die heutige Physik), sie übersteigt das beschränkte Ich, sie löst das heute bestimmende fragmentierende Denken auf (weil sie zu einem Ganzen verbindet), sie eröffnet einen Horizont, der keine Grenze hat, sondern immer wieder Ausgangspunkt für das Jenseits der Grenze ist.
Hat dies auf Brückenbau rebloggt.