Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide legt in seinem neuen Buch „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer neuen Religion“ eine neue Sicht auf den Islam vor.
Das Buch präsentiert ein sowohl für die meisten Moslems als auch für Christen völlig ungewohntes Bild des Islam. Sind sie doch beide gewohnt, Gott – im Gegensatz zum liebenden Gott der Christen – als transzendent, unnahbar, bestenfalls als strafenden Gott zu sehen. Allerdings ist dieser Ansicht von Moslems und Christen ebenfalls gemeinsam, dass sie über den Koran urteilen, ihn aber gar nicht kennen. Khorchide erklärt aus dem Koran, dass sich Gott in seiner primären Eigenschaft als Barmherzigkeit offenbart hat, dass er Barmherzigkeit und Liebe ist. 113 der insgesamt 114 Suren des Koran beginnen mit den Worten: „Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Allerbarmers…“
Das nächste Problem ist, dass die meisten Moslems gar nicht danach fragen, von welchem Gott der Koran spricht, wichtig sind ihnen nur Glaubenssätze. Gott offenbart sich im Koran als barmherziger und liebender Gott, dem es um eine Beziehung zum Menschen geht. Umgekehrt ist der Mensch in der Lage, eine Beziehung zu Gott aufzubauen, und das ist der Sinn von Religion. „Ich habe den Menschen von meinem Geist eingehaucht.“ (Koran 15:29). Der Mensch hat damit etwas Göttliches in sich, das es ihm erlaubt, nach dem Göttlichen zu suchen und sein Leben danach auszurichten. Diese Beziehung ist das Zentrale des Islam und jeder Religion. Khorchide: „Religion darf nicht auf ihre ethische Funktion reduziert werden.“ (Wie viele Christen sind sich dessen bewusst, dass das Christentum keine Moralreligion ist, sondern eine Beziehungsreligion?)
Allgemeine Missverständnisse
Gott ist absolut, außerhalb von Raum und Zeit (Allah wäre nur das, lautet oft die Kritik seitens der Christen), er ist aber auch Urheber seines Plans der Barmherzigkeit, der ewigen Erwählung des Menschen und der geschichtlichen Verwirklichung dieser Erwählung bis zur endzeitlichen Vollendung. Gott greift sehr wohl in die Welt ein, wenn auch durch das Handeln der Menschen. (Gott handelt durch Zweitursachen, heißt es im Christentum).Daher schließt Gott einen Bund mit den Menschen – und zwar mit allen Menschen.
Allerdings sieht die traditionelle Theologie die Beziehung zu Gott als eine Herr-Knecht-Beziehung. Diese ist für den Autor nicht aus dem Koran, sondern politisch motiviert. Damit ließen und lassen sich Herrschaftssysteme rechtfertigen. Im Koran ist dagegen von einer Freundschaftsbeziehung, ja Liebesbeziehung die Rede: „Er liebt sie, und sie lieben ihn.“ (Koran 5:54). „Ich bin dem Menschen näher als seine Halsschlagader.“ (Koran 50:16). (Vgl. Augustinus: „Du bist mir innerlicher, als ich mir selbst bin.“)
Aus all dem folgert Khorchide, dass jede Auslegung des Koran, die nicht mit dem Prinzip der Barmherzigkeit vereinbar ist, im Widerspruch zum Koran selbst und der Intention seiner Verkündigung steht. Auch wenn das im Volksglauben und der traditionellen Theologie kaum wahrgenommen wird.
Wer ist „Muslim“?
Diesem Angebot Gottes an den Menschen kann dieser nur in Freiheit antworten. Daher ist der Islam (für viele erstaunlich) für die Religionsfreiheit. „Es darf keinen Zwang im Glauben geben.“ (Koran 2:256).
Muslim ist man nicht, indem man bestimmte Glaubenssätze glaubt, sondern es geht um die Vervollkommnung des Menschen und um die Rückkehr in die Gemeinschaft mit Gott. „Du Seele voll Ruhe, kehre zu deinem Herrn zufrieden zurück.“ (Koran 89:27-28). (Wieder sei an Augustinus erinnert: „…ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir“).
Außerdem, so Mouhanad Khorchide, interessiert sich Gott nicht für Überschriften wie „Muslim“, „Christ“, „Jude“, „gläubig“, „ungläubig“ usw., „Gott geht es um den Menschen selbst, um seine Vervollkommnung, damit er ihn für sich, für seine ewige Gemeinschaft gewinnen und ihn in sie aufnehmen kann“. (Das erinnert doch irgendwie an die Gerichtsrede Jesu, wo Gott am Ende nicht fragt, ob jemand an Jesus geglaubt hat, sondern was jemand den Menschen getan oder nicht getan hat. Das zu akzeptieren, fällt auch vielen Christen heute immer noch schwer).
Islam bedeutet, sein Leben auf Gott auszurichten. Wie der Koran den „rechten Weg“ beschreibt, erinnert an die zehn Gebote Moses. „Islam“ meint im Koran nicht das, was wir heute als Islam bezeichnen, sondern d i e Religion, „die Annahme von Gottes Liebe und Barmherzigkeit und deren Verwirklichung im Handeln.“ In diesem Sinne werden im Koran Abraham, Lot, Noah und auch die Anhänger Jesu (Koran 5:111) als Muslime bezeichnet. Der Islam kann nicht auf Glaubenssätze oder Glaubensbekenntnisse reduziert werden. Nach der Definition Mouhanad Khorchides ist jeder, „der sich zu Liebe und Barmherzigkeit bekennt, ein Muslim, auch wenn er nicht an Gott glaubt, denn Gott geht es nicht um die Überschriften ‚gläubig‘ oder ‚nichtgläubig‘“. Islam im allgemeinen Sinne ist der Kern aller Religionen, die zu Liebe und Barmherzigkeit rufen.
Das Problem der „Ungläubigen“
Traditionell wird dieser Begriff instrumentalisiert und alle „Ungläubigen“ und Andersgläubigen verdammt. Da der Islam alles andere als eine Einheit ist, werden zu den Ungläubigen meist auch die anderen Muslime gezählt. Es geht also gar nicht gleich um die anderen Religionen. Der Autor erklärt, dass der Koran mit dem Begriff „Ungläubige“ (eigentliche eine falsche Übersetzung) jene meint, die sich weigern, die Einladung Gottes zu Liebe und Barmherzigkeit anzunehmen. Das können daher auch („gläubige“) Muslime, Juden oder Christen sein. Zum Beispiel ist ein Mensch, der meint besser als andere zu sein, weil er Muslim ist, ein in diesem Sinne „Ungläubiger“. (Das Problem kennen wir ja im Christentum auch).
Salafisten, Fundamentalisten und Extremisten, die alle anderen (Moslems wie Andersgläubige) als Ungläubige bezeichnen, sind nach Mouhanad Khorchides Definition selbst Ungläubige.
Das größte Problem sind wohl die Suren, die zur Gewalt aufrufen. Etwa: „Und wenn sie sich abwenden, dann greift sie und tötet sie, wo ihr sie findet.“ (Koran 4:89). Im historischen Kontext geht es hier nicht um die „Ungläubigen“, sondern um eine Gruppe im Umfeld des Propheten, die sich hinterrücks gegen ihn wenden. Da wird zunächst gesagt: „Wende dich von ihnen ab.“ (4:81). Es wird ihm sogar verboten, gegen Gegner vorzugehen, solange sie ihn nicht aktiv bekämpfen. Es ist also nur Verteidigung erlaubt. Der immer wieder zitierte obige Vers kommt also nur zum Tragen, wenn die Feinde direkt angreifen. Aus christlicher Sicht wäre nur zu fragen, was solche Auseinandersetzung überhaupt in einem religiösen Buch zu tun haben? Aber diese Frage stellte sich damals offenbar nicht.
Scharia und Dschihad
Auch diese beiden für Europa so furchterregenden Begriffe rückt der Autor zurecht. Dschihad heißt zunächst einmal „Anstrengung“. Unterschieden wird zwischen dem „kleinen Dschihad“, bei dem es tatsächlich um kriegerische Auseinandersetzungen geht, und dem „großen Dschihad“, der den Kampf gegen innere schlechte Charaktereigenschaften meint. „Der Kampf gegen das Schlechte in einem selbst, das ist der eigentliche Dschihad“, erklärt Muhammad (Hadith-Nr. 373).
Wenn unter Scharia ein juristisches System verstanden wird, das alle Lebensbereiche regeln soll, „dann steht das in klarem Widerspruch zum Islam“. Nach Mouhanad Khorchide ist es nicht Aufgabe von Religionen, auch nicht des Islam, Gesetze zu erlassen. Das Anliegen des Islam ist die Vervollkommnung des Menschen. Die kann aber nicht von außen, nicht durch Gesetze kommen. Es geht um (zeitlose) Gerechtigkeit und nicht um (jeweils historisch bedingte) Gesetze. Die Scharia ist ein menschliches Konstrukt und auch heute in jedem muslimischen Land anders und ständig im Wandel. Im Koran und in der prophetischen Tradition selbst gibt es keine einzige Aussage, die die Scharia genau definiert.
Notwendige Differenzierungen
Dazu sind einige Unterscheidungen notwendig:
1. zwischen mekkanischen und medinensischen Versen: Der Koran ist in einem Zeitraum von 23 Jahren entstanden. Davon war Muhammad 13 Jahre in Mekka und zehn Jahre in Medina. Der historische und gesellschaftliche Hintergrund war dabei völlig unterschiedlich. In Mekka ging es vor allem um den Kampf gegen den Polytheismus in einer arabischen Stammesgesellschaft. Ziel waren daher Monotheismus, Attribute Gottes, allgemeine ethische Prinzipien ohne juristische Aussagen.
In Medina lebten Araber und Juden ohne eine bestimmte Vorherrschaft eines Stammes. Nach dem Vertrag mit Medina bildeten Araber und Juden eine Umma (Gemeinschaft). Alle gewährten einander Schutz. Muhammad begann daher in Medina, an einem Staatsgefüge zu arbeiten, was sich auch in (zeitbedingten) Gesetzen und Regelungen niederschlug.
Für die heutige Interpretation ist es somit wichtig, zwischen allgemeinen Aussagen und historisch bedingten zu unterscheiden. In den mekkanischen Versen geht es um Allgemeingültiges, in einigen der medinensischen Verse juristischen Charakters geht es um die Gesellschaftsordnung, und diese Verse kann man nicht wörtlich in die heutige Zeit übertragen.
2. zwischen Muhammad als Gesandter und als Staatsoberhaupt: Als Gesandter ist er Überbringer einer göttlichen Botschaft, als Staatsoberhaupt ist er ein Mensch wie jeder andere auch. „Ich bin nur ein Mensch. Wenn ich euch hinsichtlich eurer Religion etwas anordne, so befolgt es. Wenn ich euch jedoch etwas aufgrund meiner Meinung anordne, so bin ich nur ein Mensch.“ (Hadith-Nr. 2361-2363). Der Koran unterscheidet auch noch zwischen Muhammad als Gesandtem und Prophet. Als Gesandter richtet er die göttliche Botschaft aus, als Prophet ist er Mensch, der in Interaktion mit der Botschaft steht. „Er interpretiert, versucht zu verstehen und die Botschaft so umzusetzen, wie es ihm als Mensch sinnvoll erscheint.“
3. zwischen theologischen und juristischen Aussagen: Theologische Aussagen sind allgemeingültig, handeln von der Beziehung des Menschen zu Gott, unterliegen nicht dem gesellschaftlichen Wandel. Juristische Aussagen unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel und können nicht verstanden werden, wenn der historische Kontext nicht berücksichtigt wird. Das betrifft beispielsweise die Stellung der Frau, die in der damaligen Stammesgesellschaft fortschrittlich war, heute natürlich einen Rückschritt bedeuten würde. Theologisch sind Mann und Frau gleichberechtigt. „Und er hat zwischen euch Liebe und Barmherzigkeit gesetzt. Darin sind Zeichen für die Nachdenkenden.“ (Koran 30:21)
Im Koran heißt es ausdrücklich: „Sollen wir euch Menschen sagen, wer die größten Verlierer sind? Das sind diejenigen, deren Eifer umsonst war, während sie glaubten, das Richtige zu tun.“ (Koran 18:103-104). Das gilt wohl für Fundamentalisten aller Religionen.
Mouhanad Khorchide: „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“, Verlag Herder, 2012. ISBN 978-3-451-30572-6
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