Die Innenwelt der Außenwelt

Als Einzelne wie als Menschheit haben wir die Welt erobert – allerdings die Außenwelt. Dass es eine Innenwelt gibt, die noch weit komplexer und unendlich weiter und tiefer ist, haben wir noch kaum registriert. Von Erobern gar nicht zu reden.

Aus der Symbiose mit der Mutter werden wir in eine völlig neue Welt gestoßen und beginnen, sie langsam zu be-greifen und zu erobern. Es ist ein langer Weg vom Begreifen über das Erobern zum Erkennen – und meist bleibt es beim Erobern. Wir erobern uns ein Stück der Welt, lassen uns darin nieder und verteidigen es als das unsere bis ans Ende unserer Tage. Das ist nicht weit weg von den Sandkastenspielen der Kindheit.

Die einschneidendste Lebensphase ist die Pubertät. Das Abenteuer „Ich“, erobert durch die Neugierde am „Du“, ohne das das Ich nicht Form annehmen könnte. Pendelnd zwischen Auseinandersetzung und Zusammenkommen. Das mündet in mehreren und/oder einer Beziehung, abgesichert durch die Berufswahl –auch die Berufswelt will erobert werden. Meist bleibt es dabei. Das Leben ist auf Schiene. Und wenn die Beziehung scheitert, fängt man (vielleicht) wieder von vorne an.

Das ist es, was C.G. Jung als die erste Lebenshälfte bezeichnet. Der Weg des Ich in die Außenwelt. Dann käme die zweite Lebenshälfte: Der Weg des Ich zu sich selbst. Und dieser Weg führte nach innen – in eine unendlich größere Welt als die äußere. Natürlich war sie immer mitbeteiligt, vor allem in der Pubertät, in der sich auch die Frage nach dem Sinn des Ganzen stellt. Diese Lebensphase ist nicht nur eine Beziehungs-, sondern auch eine philosophische Phase, in der das Denken lebendig wird – oft zum letzten Mal in einem „normalen“ Leben. Das „moderne“ reduzierte, materialistische Weltbild – obwohl naturwissenschaftlich längst nicht mehr haltbar – verführt geradezu zur Stagnation.

Nehmen wir an, das Leben geht nach der Pubertät weiter. Dann könnten wir im Partner nicht bloß die Beziehung sehen, sondern Anima/Animus, der/die uns außerdem auf den eigenen Schatten zurückwirft, unsere Persona bewusst macht und insgesamt einen (gemeinsamen) Weg der Individuation zur Selbst-Findung eröffnete. Aber noch immer wird Sigmund Freud in den Himmel gehoben und C.G. Jung ignoriert. Wäre die Welt inzwischen psychisch, soziologisch und spirituell erwachsen geworden, müsste es eher umgekehrt sein.

Wir könnten sehen, dass diese Innenwelt überall in der Außenwelt am Wirken ist, sodass diese Verkrustung, die wir „Welt“ nennen, lebendig werden kann. Wir würden vielleicht erkennen, warum wir immer an Grenzen herangehen und sie überschreiten, überwinden wollen. Denn bei allem Äußeren bleibt immer die Frage: War das schon alles? Und das ständige Gefühl: Nein, das war es nicht!

Nur sind es Ersatzhandlungen, wenn wir die Grenzen nur in der Außenwelt überschreiten wollen. Das führt ins Unendliche, aber in die Breite und nicht in die Tiefe. Letztere kann nur die Beschäftigung mit der Innenwelt liefern. Hochleistungssport ist so eine Ersatzhandlung, schon von der körperlichen Kapazität in der ersten Lebenshälfte verortet.
Interessant ist: Kunst und Kultur sind nur dann Kunst und Kultur, wenn sie imstande sind, die Außen- mit der Innenwelt zu verbinden. Die Versuche der pubertär/nachpubertären Welt, sogar Kunst und Kultur krampfhaft in der Außenwelt festzumachen, sind daher irgendwie kindisch und pervers. So aber ist oft diese kastrierte Kunst hochbezahlt, während die eigentliche Kreativität in irgendeinem Winkel vermodert. Ebenso in der Theaterwelt, da wird dieses reduzierte Denken als „Gesellschaftskritik“ verkauft. Der Publikumsschwund zeigt, dass das nicht der richtige Weg ist. In den Religionen diskutieren wir über Strukturen und andere Äußerlichkeiten, weil die spirituelle Reife fehlt, mit der wir über das tatsächlich Wesentliche reden könnten.

Und da sich alle Zukunftsprognosen in die Außenwelt verbeißen, sind sie allesamt zu nichts zu gebrauchen. Zumindest dann nicht, wenn wir optimistisch genug sind, daran zu glauben, dass die Menschheit auch einmal erwachsen wird. Dass sie einmal imstande sein wird, die Welt nicht als Schale zu sehen, sondern als ganze. Dann hätte die Langeweile der Moderne ein Ende, denn dann würde das Leben wieder ein Abenteuer!

 

Über Robert Harsieber

Philosoph, Wissenschaftsjournalist, Verleger (RHVerlag), Mitarbeit an verschiedenen Projekten. Philosophische Praxis: Oft geht es darum, Menschen dabei zu helfen, ihr eigenes Weltbild zu erkunden. Interesse: Welt- und Menschenbilder, insbesondere die Frage eines zeitgemäßen Welt- und Menschenbildes.
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